Die verbotene Stadt

Konzept 2011

 


HASS

Intensives und tiefes Gefühl, das wesentlich das Handeln von Menschen bestimmen kann. Er widerspiegelt immer gegensätzliche zwischenmenschliche Beziehungen und ist im gesellschaftlichen Leben der emotionale Ausdruck der unversöhnlichen Klassen- und Interessengegensätze zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie (Klassenhass). Der moralische Inhalt des H. ist abhängig vom Gegenstand, auf den er gerichtet ist, und kann von daher wertvoll und erhaben oder kleinlich und niedrig sein. Hass zielt immer auf die aktive Auseinandersetzung mit dem gehassten Gegner, begnügt sich nicht mit Abscheu und Meidung, sondern ist oft mit dem Bedürfnis verbunden, ihn zu vernichten oder zu schädigen. Hass ist ein wesentlicher bestimmender Bestandteil der tschekistischen Gefühle, eine der entscheidenden Grundlagen für den leidenschaftlichen und unversöhnlichen Kampf gegen den Feind. Seine Stärkung und Vertiefung in der Praxis des Klassenkampfes und an einem konkreten und realen Feindbild ist Aufgabe und Ziel der klassenmäßigen Erziehung. Hass ist zugleich ein dauerhaftes und stark wirkendes Motiv für das Handeln. Er muss daher auch in der konspirativen Arbeit als Antrieb für schwierige operative Aufgaben bewusst eingesetzt werden.“

 

 

(aus dem „Wörterbuch der ‚politisch-operativen Arbeit’“ des MfS)

 

 

DIE VERBOTENE STADT

 

 

2010 – 20 Jahre Entmachtung und Auflösung der Stasi.

15.01.1990 Besetzung der Stasibehörde.

 

 

1. Einleitung

 

Die Staatsicherheit war „der erschreckendste und zugleich groteskeste Teil des Herrschaftsapparates der SED“. Sie war Kontrolle der Gesellschaft. Sie wuchs im Laufe der Jahre an zu einer Großbürokratie. Sie tätigte mit die erfolgreichste Spionage und Spionageabwehr weltweit. Sie stellte die Leibwächter für die Führungskräfte der DDR, das Politbüro, die Passkontrollen. Sie war weltweit im Waffen- und Technologiehandel aktiv. Sie war darüber hinaus Gründerin des FC Dynamo Berlin.

Die Mitarbeiterzahl (hauptamtliche und inoffizielle) der Stasi wuchs in den Jahren ihres Bestehens auf die gigantische Zahl von ca. 265.000 (1989) an.

Dieses Wachstum manifestiert sich in der Architektur der Stasizentrale in Berlin Lichtenberg, der damaligen „Verbotenen Stadt“. Anfangs bestand sie nur aus einem Gebäude, einer Keimzelle, die dann immer weiter ausgebaut wurde, Gebäude für Gebäude, zu einer komplexen „Stadt“, umringt von Wohnblöcken in welchen die Stasimitarbeiter lebten. In diesem streng bewachten Stadtgefüge waren vor 1989 bis zu 7000 Geheimdienstmitarbeiter beschäftigt. Auf dem gesamten Areal galt Zutrittsverbot für alle Bürger, die keine hauptamtlichen Mitarbeiter waren. Die hauptamtlichen Mitarbeiter wurden zum Teil schon in den 7. bis 9. Klassen der Schulen gesucht, bearbeitet und später rekrutiert.

 

Alles war bis ins Detail durchdacht, geplant, systematisiert – entmenschlicht.

 

 

Das interne Wörterbuch zur ‚politisch-operativen Arbeit’ definierte die Hauptaufgabe des MfS wie folgt:

 

Insgesamt muss die Erfüllung der Hauptaufgabe des MfS zu Arbeitsresultaten führen, die geeignet sind, der Partei rechtzeitig strategische und taktische Informationen über den Gegner zur Verfügung zu stellen, den Feind in seinen Ausgangsbasen im Operationsgebiet aufzuklären, zu stören und zu bekämpfen, feindliche Machenschaften gegen die DDR zu verhindern, innere Feinde zu entlarven und die Sicherheit der DDR unter allen Lagebedingungen zu gewährleisten sowie Schäden und Schadensbehandlungen durch Vorbeugung, höhere Wachsamkeit, Disziplin und Ordnung zu verhindern.“

 

(aus dem „Wörterbuch der ‚politisch-operativen Arbeit’“ des MfS)

 

 

 

 

2. Das Projekt

 

 

Was geschah mit den Menschen, die zum Teil schon als Kinder bzw. Jugendliche unter den psychologischen Einfluss der Staatssicherheit gerieten und über Jahre bearbeitet wurden? Inwieweit waren sie auch Opfer der Institution? Was haben diese Menschen von ihren Erlebnissen mit ins Heute genommen? Wie haben die Stasi-Opfer damals ihre Überwachung erlebt? Was hat die Akteneinsicht bei Ihnen bewirkt? Inwiefern fand bislang in Deutschland eine Geschichtsaufarbeitung statt? Gab es einen Prozess der Versöhnung?

Inwiefern steckt der Geist von damals noch immer in dem Gebäude der Staatssicherheit, dem heutigen Sitz der BStU?

 

Mit der multimedialen Inszenierung Die Verbotene Stadt werden wir uns auf eine Expedition in das Innere des Stasiapparates begeben, mit dokumentarischen Mitteln diesen Teil der neueren deutschen Geschichte ERLEBBAR machen, über das Diktaturinstrument Staatssicherheit der DDR aufklären und dabei vor allem junge Menschen, die die DDR nicht erlebt haben, ansprechen.

 

 

DAS MATERIAL / DER TEXT

 

Der Versuch, Sprache als Mittel der Herrschaftssicherung einzusetzen und den öffentlichen Sprachgebrauch zu beeinflussen, ist von nahezu allen Diktaturen unternommen worden, besonders intensiv von der SED.“

(aus dem Vorwort von Siegfried Suckut. Hrsg. des „Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur ‚politisch-operativen Arbeit’“)

 

Die Material- und Textgrundlage unserer Inszenierung basiert auf einer ca. dreimonatigen Recherche. Wir werden mit Kamera und Mikrofon Interviews mit Menschen führen, die von der Stasi verfolgt wurden und mit Menschen, bei denen die Stasi versucht hat sie anzuwerben. Auch einige Mitarbeiter der BStU (als die aktuellen Betroffenen des Überwachungsapparates) werden wir zu ihren Erfahrungen bei ihrer Arbeit mit Stasiakten, Filmen, Tonbändern etc. befragen. Außerdem werden wir auf Material der BStU und der Bundeszentrale für politische Bildung, sowie weitere Archive (Bundesstiftung Aufarbeitung, Robert-Havemann-Gesellschaft, Stiftung Berliner Mauer etc.) zurückgreifen. Begriffsdefinitionen des „Wörterbuchs der politisch-operativen Arbeit“ des MfS werden als Sprache der verbotenen Stadt eingearbeitet werden. Und zusätzlich werden Textpassagen der aktuellen deutschen Aufarbeitung aus Presse, Bildung, Politik usw. in unsere Inszenierung einfließen.

 

In der entstandenen Spielfassung werden drei verschiedene Material- und Textebenen miteinander konfrontiert:

 

1. Stasi Spitzelberichte / Textpassagen aus dem „Wörterbuch der ‚politisch-operativen Arbeit’“ des MfS / Textmaterial aus den Archiven der Stasi (Lehrmaterial, Filme, Akten etc.)

 

2. Text-, Ton- und Bildmaterial aus den Berichten von Menschen, die vom Wirken der Stasi unmittelbar betroffen waren (Interviews mit Stasi-Opfern, mit DDR-Bürgern, die angeworben werden sollten, mit BStU-Mitarbeitern)

3. Texte des Aufarbeitungsdiskurses zu Stasi/West-Ost/Wiedervereinigung aus Zeitungen, Fernsehsendungen, Internet und Politischen Reden.

 

(Beispiele von Texten finden Sie im Anhang 1.2)

 

Daraus ergeben sich drei Figurenlinien, die wir

DAS WÖRTERBUCH

DER BETROFFENE

DIE AUFARBEITUNG

nennen.

 

Das recherchierte sowie das durch die Interviews produzierte Bild- und Tonmaterial wird als Text und Bild in die Inszenierung eingearbeitet (s.u.).

 

Anhand der Sprache und Sprachregelung des MfS (DAS WÖRTERBUCH), die wir in Kontrast zu Erlebnissen von Verfolgten der Stasi stellen (DER BETROFFENE), werden wir die menschlichen und gesellschaftlichen Deformationen aufzeigen, die dieses Diktaturinstrument verursacht hat. Auf der einen Seite das hermetische und menschenverachtende Regelwerk einer Staatsbehörde, auf der anderen Seite die Lebensgeschichten, Schicksale und Auswirkungen dieser Behörde auf Menschen der ehemaligen DDR. Als dritte Komponente beziehen wir die gegenwärtige deutsche Aufarbeitung mit ein, um ihren Status Quo zu überprüfen.

 

 

DER SPIELORT

 

Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg war bis 1989 ein geheimnisumwitterter Ort. Der knapp zwei Quadratkilometer große Komplex zerschnitt ein historisch gewachsenes Wohngebiet und war hermetisch abgeriegelt [...]. In der streng bewachten Stadt innerhalb der Stadt waren vor 1989 bis zu 7000 Geheimdienstmitarbeiter beschäftigt. [...]“

(Aus Stasi-Stadt, Die MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, Ein historischer Rundgang“ von Christian Halbrock)

 

Der Originalschauplatz, an welchem die Staatssicherheit damals wirkte, ist Die verbotene Stadt.

Heute befindet sich auf und in diesem Gelände ein Verwaltungstrakt der Deutschen Bahn, diverse Büros von Bundes- und Städtischen Institutionen und verschiedene Firmen. Ein Grossteil der Büroflächen steht leer. Die gesamten Außenareale sind, mit Ausnahme eines Imbisshäuschens, in einem nach 20 Jahren vom Verfall geprägten Zustand von 1989. Außerdem hat dort die BStU sowie ein kleines Museum ihren Sitz.

 

Die Zuschauer werden durch verschiedene Stationen des Areals geführt (s. Anlage 1.1: Visualisierung):

 

  1. BETRETEN DES AREALS: Das Gelände war damals hermetisch abgeriegelt. Die Außenmauern weisen noch heute diverse Formen von Gittern und Absperrungen auf und bilden den Vorplatz der „Verbotenen Stadt“.

  2. VERIRREN AUF DEM AREAL: Das Gelände besteht aus zahlreichen, von Plattenbauten umringten, verschachtelten Höfen. Leere Parkplätze, Pforten und Einfahrten, düstere Fassaden, verwilderte Grünanlagen, dunkle Fluchten.

  3. DAS INNERE DER GEBÄUDE: Die Innereien des Gebäudes, ein Labyrinth von Fluren und Treppenhäusern, in welchen bis vor ca. 20 Jahren die Stasi hinter Milchglasfenstern gewirkt hat: Räume mit vergilbten Papieren, mit Schlössern versehene Stahlkästen, ein Bunker, ein Stahl-Beton-Tresor, Säcke mit zerschredderten Akten, ein Stasibüro, ein Paternoster.

  4. AUFLÖSUNG: Foyersituation und Imbisswagen, Außenareal.

 

 

 

 

DIE INSZENIERUNG

 

 

Eine freundliche Dame begrüßt die Zuschauer, führt sie auf das Gelände. Plötzlich ist sie verschwunden und die Zuschauer sind sich selbst überlassen. Ein gespenstisches Ambiente entsteht zwischen den Mauern des Gebäudekomplexes.

Texte aus dem Stasi-Wörterbuch werden hörbar, aufgrund der Mikroports kann man den Sprecher nicht orten. Man hört die Sprache des MfS, Schritte, Atmen.

Interviews werden auf Wände, Fassaden und Garagentore projiziert. Aus den verschiedenen Stimmen der Interviews entsteht die Figur des BETROFFENEN und aus den Flüsterstimmen der Verbotenen Stadt entsteht die Figur des WÖRTERBUCHS (Stasi). Noch begegnen sie sich nicht. Sie tauchen einzeln plötzlich auf und verschwinden wieder in die in die Dunkelheit, um dann an einem anderen Ort wieder zu erscheinen. Ihre Stimme bleibt, geht, kommt wieder. An einigen Wänden erscheinen Bilder aus dem geheimen Innenleben der BStU, Archive, Bunker, nicht begehbare Orte. Die Figur DIE AUFARBEITUNG, die freundliche Dame, die uns durch das Gelände führt, zappt sich mit uns durch Textfetzen aus dem gegenwärtigen Aufarbeitungsdiskurs.

Dann werden die Zuschauer in das BStU-Gebäude hinein geleitet. Ein Registrierungsritual findet statt. Es geht in die Gedärme des Gebäudes, durch Flure und Treppenhäuser, der Zuschauer verliert seine Orientierung. Die projizierten Interviews der BETROFFENEN und die Stimme des WÖRTERBUCHS (Stasi) werden lauter, sichtbarer und direkter. Die Darsteller werden präsenter.

Die Reise durch das Gebäude mündet in einen engen Raum, in welchem der zweite Teil der Inszenierung beginnt. Opfer und Täter treffen aufeinander, eine klaustrophobische Dialogsituation entsteht. Im Unterschied zu der Inszenierung auf dem Außenareal beginnen die Figuren hier im abgeschlossenen Raum zu kommunizieren, sie sprechen ineinander verschnittene Dialogfragmente. Die Textpassagen ihrer unterschiedlichen Haltungen, ihrer gegensätzlichen Sprache prallen aufeinander. Institutionalisierter Hass gegen menschliche Erlebnisse, um auszuloten, welche Form von Auseinandersetzung aus der Gegenüberstellung entsteht. Wäre eine Versöhnung möglich?

Hier gibt es kein Filmmaterial mehr. Nur die Sprache bleibt.

Wohin führt die Aufarbeitung? Was geschieht in den nächsten 20 Jahren?

Zwischen Foyersituation und Imbisswagen finden wir uns am Ende draußen wieder.

 

Ein Denkmal? Musik. Drinks. Zeit und Raum zum Austausch. Häppchen werden serviert. Wir sind wieder im hier und jetzt, zurückgekommen aus einer gespenstischen Epoche der deutschen Geschichte. 


                                                                                                                                                                          copyright sideviews